Die Entwicklung zukunftsfähiger, verantwortungsvoll Beziehung zwischen Landwirtinnen und Landwirten und Lebensmittelhandel können nur in gegenseitigem Miteinander entstehen. Die Biobranche zeigt das dies – wenn auch bisher noch begrenzt – möglich ist. Der Bundesverband Naturkost Naturwaren (BNN) hat einen lesenswerten offenen Brief zu den aktuellen Konflikten zwischen LEH und Landwirtinnen und Landwirten geschrieben:
Berlin, 09.12.2020
Offener Brief der Bio-Branche an Lebensmittelwirtschaft und Politik
Sehr geehrte Akteur*innen der Lebensmittelwirtschaft und Politik,
in den vergangenen Wochen haben wir einen regen Austausch von Stellungnahmen
zwischen Politik, Bauernverband und konventionellem Lebensmittelhandel zum
Agrarmarktstrukturgesetz erlebt. Wie viel vertane Chance steckt in dem, was sich die
Akteur*innen gegenseitig vorwerfen!
Wir, die Unternehmen der Bio-Kernbranche, halten das für den falschen Weg.
Chancen sind im Gegeneinander genug vertan. Wir sind überzeugt, dass es angesichts
der zu lösenden Aufgaben nur miteinander geht.
Als echte Alternative für Verbraucher*innen zeigt der Bio-Fachhandel, dass ein
anderes Miteinander und die Idee kooperativer Wertschöpfung gelingen können. Wir
stellen aber immer wieder fest, dass unser alternativer Weg von den aktuellen
Rahmenbedingungen begrenzt wird – das muss sich ändern.
Unser Weg ist vielversprechend und wir stützen uns seit über 40 Jahren auf die
Zustimmung einer wachsenden Gruppe von Konsument*innen. Sie zeigen mit ihrer
aktiven Nachfrage, dass der Bedarf nach hochwertigen Lebensmitteln aus gesunden
Strukturen ein echtes Bedürfnis ist. Vielen Menschen wird zunehmend wichtig, dass
Lebensmittel nicht nur sicher, sondern rundherum qualitativ hochwertig sind. Zu
diesem modernen Qualitätsverständnis gehören auch die Umstände, unter denen
Lebensmittel hergestellt, transportiert, verarbeitet und gehandelt werden. Deshalb
sind immer mehr Menschen in Deutschland und Europa bereit, mit ihrem bewussten
Konsum die dringend notwendige Ernährungswende mitzugestalten.
Nachdenklichkeit und Selbstreflektion stünde den Entrüsteten besser zu Gesicht als
gegenseitige Vorwürfe. Veränderung ist angezeigt. Und hier sind alle gefordert. Der
Bauernverband, der die Industrialisierung der Landwirtschaft aktiv mitgestaltet hat.
Die Lebensmittel-Großindustrie, die auf Rationalisierung getrimmt, in immer
größeren Einheiten immer künstlichere Lebensmittel produziert. Die Handelsriesen,
die im Oligopol nurmehr Billigpreise für Verkaufsargumente halten. Die Politik, die im
Glauben an einen globalisierten Welthandel nicht verstanden hat, wie viel
gesellschaftliches Potenzial für die Themen Klimaschutz, Gesundheit,
Ressourcenschonung und soziales Miteinander das Feld Ernährung birgt.
Die beteiligten Akteur*innen haben es in der Hand, die berechtigte gegenseitige Kritik
anzunehmen und in Transformationsenergie umzusetzen. Moralische Entrüstung ist
ausschließlich da angebracht, wo das Verharren in überkommenen Positionen die Veränderungen, die Bio-Fachhandel und Bio-Lebensmittelwirtschaft lange
eingeläutet haben, bremst und blockiert.
Mit dem Bio-Fachhandel arbeiten wir an einem enkeltauglichen Ernährungssystem,
in dem Menschen an allen Stellen Menschen sind. Menschen, die in Würde wertige
und gesunde Lebensmittel herstellen und handeln und in dem Verbraucher*innen zu
Beteiligten werden, die auch im Konsumieren ihre wertschätzende Haltung und
Integrität behalten.
Zur weiteren Ausgestaltung dieses alternativen Weges braucht es politische
Rahmenbedingungen, die weit über die des Agrarmarktstrukturgesetzes
hinausgehen und die die strukturellen Gegebenheiten radikal verändern. Es braucht
eine mutige Gesetzgebung, die Marktmacht und Wettbewerb begrenzt und die die
Fehlsteuerung der jetzigen Lebensmittelwirtschaft korrigiert. Positivwirkung in den
Feldern Klimaschutz, Tierwohl, Humusaufbau, sinnstiftende Arbeit und
Konsumentensouveränität muss das Ziel einer weitsichtigen Politik sein.
In einer gemeinsamen Anstrengung sind alle Menschen und Unternehmen, die mit
Lebensmitteln zu tun haben, dazu aufgerufen, ihre Verantwortung für die Natur, die
Lebensbedingungen auf unserem Planeten, die eigene Lebensqualität, aber viel mehr
für die der jungen Menschen und der nachfolgenden Generationen in die Hände zu
nehmen und aktiv umzugestalten.
Deshalb fordern wir, die Mitglieder des Verbandes der Bio-Pioniere und
Nachhaltigkeits-Vordenker in Sachen Lebensmittel, von der Politik einen radikalen,
konsequenten und zügigen Systemwechsel hin zu einem deutlich extensivierten
Ernährungssystem. Das bedeutet…
…für Politik und Gesellschaft:
• Die ambitionierte Umsetzung der europäischen Lieferkettengesetzgebung und der Richtlinie gegen unlautere Handelspraktiken (UTP) in nationales Recht.
• Die Einrichtung eines Jugend-Ernährungs-Rates, der jüngeren Menschen als zukünftigen Betroffenen eine Stimme und einen Sitz in der Debatte um das Ernährungssystem der nächsten Jahrzehnte gibt.
• Die Schaffung eines ganzheitlich ausgerichteten Politikfeldes ‚Ernährungs-System‘ und dessen Verortung in einem Ministerium mit umfassendem Zuschnitt.
…für Land- und Lebensmittelwirtschaft:
• Die weitgehende Re-Regionalisierung von Land- und Lebensmittelwirtschaft zur Stabilisierung der Versorgungssysteme und ihrer Lieferketten.
• Die Förderung lokal und regional verankerter Nährstoffkreisläufe für Menschen und Tiere.
• Das Ende der Massentierhaltung.
• Das vollständige Verbot chemisch-synthetischer Dünger, Pestizide, Herbizide und Fungizide.
…für wirtschaftliche Rahmenbedingungen und ökonomische Resilienz:
• Die Aussetzung und das Verbot von Bodenspekulation.
• Der Abbau der Subventionen, die Fehlentwicklungen stützen und Transformation behindern.
• Die Entwicklung und Einführung von True-Cost-Bepreisung für wahre Preise in den Märkten des Landes.
• Die strukturelle Förderung einer mittelständischen und handwerklichen Lebensmittelwirtschaft und den Rückbau von Groß- und Konzernstrukturen.
• Die strukturelle Neubetrachtung des Welthandels und den Rückbau preisinduzierter Warenströme.
• Ein Steuerrecht, das Schadwirkungen bepreist und die Gemeinwohl-Systemleistungen von Lebensmittelakteur*innen honoriert.
• Rahmenbedingungen, die Reinvestition von Unternehmensgewinnen befördern und Mittelabflüsse erschweren.
• Einen stabilen und niedrigschwelligen Zugang zu Transformationskapital aus gesellschaftlichen, öffentlichen und Marktquellen.
• Die Schaffung von Unternehmensformen, die sowohl Verantwortungseigentum als auch die Beteiligung von Konsument*innen ermöglichen und fördern.
• Ein Kooperations-Gesetz, das transparente Kooperationen und Wertschöpfungsnetzwerke aktiv unterstützt.
…für Bildung und Forschung:
• Eine vernetzte, gesellschaftlich getragene Forschung zu allen Bereichen des Ernährungssystems, zu Ernährungsstilen, Gesundheitswirkungen und zu allen Produktions- und Handelsschritten.
• Die Neuausrichtung lebensmittelhandwerklicher Berufe mit klarem Nachhaltigkeitsfokus.
• Eine praktische, lustvolle und umfängliche Ernährungsbildung in allen Schulformen unter Einbezug lebendiger Lernorte auf landwirtschaftlichen Betrieben.
Von allen anderen Akteur*innen des Lebensmittelsektors und uns selbst fordern wir,
unabhängig von politischen Rahmenbedingungen, aus Eigenverantwortung heraus
sofort im eigenen Geschäftsmodell die Leitprinzipien auf Zukunftstauglichkeit
umzustellen. Zum Wohl der Gesellschaft, ihrer eigenen Überlebensfähigkeit und der
Zukunftsfähigkeit einer Umwelt, in der es sich für Menschen lohnt zu leben und zu
wirken. Veränderung kann gelingen, wenn wir sie gemeinsam gestalten.
Mit freundlichen Grüßen und bereits auf dem Weg…
Der Bundesverband Naturkost und Naturwaren e.V. und seine knapp 200
Mitgliedsunternehmen